Demografischer Wandel und Arbeitspolitik in Thüringen: Fünf Thesen zur Diskussion

Sarah Hinz, Stefan Schmalz, Ingo Singe

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Der demografische Wandel gilt seit mehreren Jahren als einer der Megatrends gesellschaftlicher Entwicklung (von Loeffelholz 2011; ddn 2013). Unterschiedliche Deutungsmuster zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik – insbesondere deren Schrumpfung und Überalterung – bieten verschiedensten Akteuren Anlass und Legitimation für politische Interventionen. Tatsächlich scheint kaum ein gesellschaftlicher Bereich von den Auswirkungen „der Demografie“ ausgespart zu bleiben: Die demografische Dynamik manifestiert sich auf Arbeitsmärkten in einem Mangel an Arbeitskraft, sie forciert disparate regionale Entwicklungen, fordert die Anpassung der Sozialsysteme, stellt Gesundheits- und Bildungssystem vor Herausforderungen und fordert zu neuen migrationspolitischen Weichenstellungen heraus.

In den öffentlich geführten Demografiediskurs bringen die verschiedenen Akteure naturgemäß eigene Perspektiven und Interessen ein: Versicherungsunternehmen verweisen auf die Demografie und die scheinbar zwangsläufig daraus resultierende Krise der staatlichen Rentenversicherung, um den Absatz eigener privater Altersvorsorgeprodukte argumentativ zu unterlegen. Unternehmen appellieren an den Staat und fordern Maßnahmen, um das Arbeitskräfteangebot abzusichern und benötigte Kompetenzen bedarfsgerecht zur Verfügung stellen. Consulting-Firmen publizieren Demografiestudien und versäumen nicht, Beratungsleistungen anzupreisen, die die Entwicklung demografiesensibler Personalpolitik unterstützen und so dem prognostizierten Fachkräftemangel den Schrecken nehmen sollen.

Mit den folgenden Thesen nimmt das Projekt rebeko eine erste Positionierung vor. Wir verorten uns zwischen einem alarmistischen Pol, der aus der demografischen Entwicklung auf  umfassende und anhaltende Lücken in der Versorgung mit Arbeitskräften und auf entsprechende Wohlstandsverluste schließt (z.B. Prognos 2008), sowie andererseits einer Gegenposition, die die Bedeutung demografischer Prozesse für Arbeitsmärkte und Regionalentwicklung weitestgehend negiert (z.B. Brenke 2010). 

Viele der öffentlichkeitswirksamen Studien, die sich mit den Wirkungen des demografischen Wandels auf den Arbeitsmarkt befassen (Bundesagentur für Arbeit 2011; Prognos 2011) sagen die Entstehung eines flächendeckenden Fachkräftemangels in Deutschland voraus. Demnach werden sich bereits aktuell spürbare Besetzungsprobleme und Engpässe in verschiedenen Berufen (z.B. Mechatroniker/-innen, Pfleger/-innen) zunehmend branchen- und qualifikationsgruppenübergreifend manifestieren (ddn 2013). Die Bundesagentur für Arbeit prognostiziert in ihrem Papier „Perspektive 2025 – Fachkräfte für Deutschland“, dass das Erwerbspersonenpotenzial zwischen 2010 und 2025 um rund 6,5 Mio. Menschen zurückgehen werde, was in Zukunft erhebliche Fachkräfteengpässe verursachen werde —  eine anhaltend gute Konjunktur vorausgesetzt  (Bundesagentur für Arbeit 2010: 9). Das Forschungsinstitut Prognos kommt in der Studie „Arbeitslandschaft 2030“ zu dem Schluss, dass sich bis 2030 eine Lücke von rund 5 Mio. Arbeitskräften ergeben werde, und leitet diese Einschätzung unmittelbar aus der prognostizierten Reduktion des Erwerbspersonenpotenzials ab (Prognos 2011). Als Gründe für diese hohen Zahlen werden meist die Überalterung der (Erwerbs-)Bevölkerung, niedrige Geburten, stagnierende Migrationsraten sowie die wachsende Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitskräften angeführt.

Für Thüringen lassen sich ähnliche Argumentationsstränge nachzeichnen. Sie schließen von einer reduzierten Bevölkerung im Erwerbsalter auf verschärfte Asymmetrien auf den Arbeitsmärkten (d.h. einem Nachfrageüberschuss). Tatsächlich gilt der Freistaat unter den deutschen Bundesländern als eines der demografischen Sorgenkinder. Zwischen 1990 und 2011 sank die Bevölkerungszahl um 390.000 bzw. um 14,9 Prozent (Thüringer Ministerium für Land, Bau und Verkehr 2015). Ein weiterer drastischer Rückgang ist nach offiziellen Daten durchaus wahrscheinlich: Im Vergleich zu 2014 wird Thüringen bis 2035 weitere 13,1 Prozent seiner Bevölkerung „einbüßen“. Während die kreisfreien Städte einen leichten Zuwachs erzielen können, entleeren sich die Landkreise zusehends, partiell verlieren sie im Bezugszeitraum nahezu ein Viertel der Bevölkerung (Thüringer Landesamt für Statistik 2013). So berechnete das zsh – Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. in der Studie „Fachkräfteperspektive 2025“ einen Bedarf der Thüringer Wirtschaft nach 280.000 Arbeitskräften bis zum Jahr 2025, was bei einer Gesamtzahl von derzeit knapp einer Million Erwerbstätigen (Thüringer Landesamt für Statistik 2016) eine gewaltige Ziffer ist (zsh 2013). Nach Berechnungen der Boston Consulting Group (2015) wird im Jahr 2030 in Thüringen die relative Lücke zwischen Arbeitskräftebedarf und -angebot 28 Prozent des Arbeitskräfteangebots  betragen. Das ist im Bundesvergleich der „bedrohlichste“ Wert mit sehr negativen Wirkungen auf das BIP.  

Die referierten Zahlen bestimmen die öffentliche Debatte und werden von verschiedenen politischen Entscheidungsträgern und Institutionen (Parteien, Ministerien, Unternehmen etc.) für ihre Planung und Strategiebildung herangezogen. Unbestreitbar ist, dass einzelne Branchen und Unternehmen mit Engpässen an geeigneten Arbeitskräften konfrontiert sind (Brenzel et al. 2014; Dummert et al. 2014). Das Katastrophenparadigma eines generalisierten Fachkräftemangels ist bisher jedoch noch nicht eingetreten: Viele der Prognosen und Projektionen mussten im Nachhinein revidiert oder abgemildert werden (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2013).

Im Folgenden wollen wir das Verhältnis von demografischer Dynamik und Engpässen am Arbeitsmarkt am Beispiel Thüringens diskutieren. Wir bezweifeln den Gehalt von gängigen Arbeitsmarktprognosen zur Bevölkerungsentwicklung, die oftmals einseitig auf die Angebotsseite fokussieren und die Handlungsoptionen der Arbeitgeberseite in Reaktion auf drohende oder manifeste Mangelsituationen systematisch ausklammern.

Wir formulieren fünf Thesen zu diesem Thema. Dabei möchten wir einige Elemente für eine alternative Sichtweise herausarbeiten, die stärker wertschöpfungs- und subjektorientiert ausgerichtet ist. Wir gehen (1) von der Eingangsüberlegung aus, dass die Katastrophenszenarien eines flächendeckenden Fachkräftemangels unterkomplex sind bzw. entscheidende Faktoren und Wirkrichtungen unzureichend berücksichtigt werden (Differenzierungsthese). (2) Am Beispiel Thüringens argumentieren wir, dass aber zweifellos die Phase eines Überangebots an gut ausgebildeten Arbeitskräften endet, was veränderte subjektive Anspruchshaltungen der Beschäftigten mit sich bringt, die die Arbeitgeberseite herausfordern (Fachkräfteparadiesthese). (3) Wir identifizieren dann regionale Disparitäten und Wertschöpfungsstrukturen als bedeutende Einflussfaktoren  für die Ausprägungen des demografischen Wandels (Zentrum-Peripherie-These), um schließlich (4) unterschiedliche regionale Konstellationen zu skizzieren, die einen wichtigen Einfluss auf die Rekrutierung von Arbeitskräften ausüben (Konstellationenthese). (5) Zuletzt erläutern wir, dass eine Arbeitspolitik, die auf die Eindämmung und Vorbeugung von Engpässen zielt, Fachkräfte als regionales Kollektivgut begreifen muss und dies langfristig orientierter, akteursübergreifender Kooperationsformen bedarf (Kollektivgutthese).

Die Thesen zielen darauf, eine Debatte anzuregen. Sie dienen also der Zuspitzung, was zwangsweise zu Lasten der Differenzierung der Argumente geht.

 

show Content These 1: Differenzierungsthese

Eine direkte Ableitung eines Fachkräftemangels aus dem Großtrend „demografischer Wandel“ ist verkürzt. Es gibt verschiedene Anpassungsfaktoren und Handlungsoptionen, die der Entwicklung von verstetigten Engpässen entgegenwirken.

Den meisten Studien, die einen Fachkräftemangel voraussagen, teilen ein spezifisches Argumentationsmuster: Sie leiten vorschnell aus einem verringerten Erwerbspersonenpotenzial Fachkräfteengpässe oder -mängel ab. So basiert etwa die medienwirksame Projektion von Prognos aus dem Jahr 2008 auf einer Fortschreibung des Status Quo um weitere zwei Jahrzehnte (Prognos 2011). Dabei wird angenommen, dass die Arbeitskräftenachfrage konstant bleiben wird und sich unabhängig von der Angebotsseite entwickelt (Prognos 2008; zsh 2013). Das führt zu Verzerrungen, ist doch die Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich volatiler als das Angebot. Die Projektionen von Prognos schließen zudem aus einem möglichen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials unmittelbar auf eine Mangelsituation, also auf dauerhaft und in großer Zahl fehlende Fachkräfte. Ein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Fachkräftelücke. Vielmehr, so argumentieren die Analyst/-innen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, ist mit einer Anpassung der Unternehmen an die neue Situation zu rechnen, was einen Rückgang der Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften nach sich ziehen wird (Brücker et al. 2013: 14). Das bedeutet, dass ein Anstieg der Löhne und eine Anpassung des Kapitalstocks zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage führen können.

Eine vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie (TMWAT) in Auftrag gegebene Studie, die für Thüringen einen Arbeitskräftebedarf von 280.000 Personen im Jahr 2025 ermittelt hat, berechnet den Ersatzbedarf an Arbeitskräften durch eine modellierte Hochrechnung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die künftig durch die Rente ausscheiden. Zudem wurde der mögliche Erweiterungsbedarf auf Basis der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung projiziert (zsh 2013: 6). Die Studie, durchgeführt vom Zentrum für Sozialforschung in Halle, ist in vielfacher Hinsicht als problematisch zu bewerten. Ähnlich den Prognos-Projektionen werden auch hier einige methodische Fehlannahmen getroffen, die kritisch zu betrachten sind. Zunächst wird die Annahme eines sich über Jahre hinweg kumulierenden Arbeitskräftebedarfs von 280.000 Menschen nicht mit einer Vergleichsgröße ins Verhältnis gesetzt. Dies stellt die gesamte Aussagekraft der Studie grundsätzlich in Frage, da eine Referenzgröße, für die sich hier das Erwerbspersonenpotenzial besonders eignen würde, für die Prognosen und Projektionen fehlt. Zudem ergibt sich aus den Renteneintritten der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nicht zwangsläufig ein äquivalenter Ersatzbedarf an Arbeitskräften. Außerdem ist die Modellierung allein auf Basis der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten selbst problembehaftet: Auch wenn diese Erwerbsgruppe in Thüringen die deutliche Mehrheit bildet (jedoch mit einem sinkenden Anteil an der Gesamtbeschäftigung, vgl. Goes et al. 2015: 33), werden die übrigen Erwerbstätigen bei der Bestimmung von Ersatzbedarfen durch die Wissenschaftler/-innen des zsh nicht mit einbezogen. Vor dem Hintergrund einer stetigen Abnahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wäre dies jedoch eine wichtige Voraussetzung, um umfassende Aussagen über die Entwicklung des Arbeitsmarkts vornehmen zu können. Zuletzt scheint die Nachfrageseite in dieser Thüringenstudie wie in der Projektion von Prognos gleichsam als exogene Variable angenommen zu werden. Ihre künftige Entwicklung ist jedoch abhängig von kaum vorhersagbaren Schwankungen der globalen Konjunktur und wird durch weitere Faktoren wie den sektoralen Strukturwandel, der Zunahme kapitalintensiver Technologien, Rationalisierungsprozesse etc. beeinflusst (Brücker et al. 2013). Aktuell ist z.B. völlig unklar, im welchem Umfang menschliche Arbeitskraft durch die Digitalisierung von Produktion und Dienstleistungen ersetzt werden kann und wird.

Insgesamt sind Hochrechnungen und Projektionen der Angebots- und der Nachfrageseite über einen derart langen Zeitraum nicht besonders treffsicher. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sich Fachkräftebedarfe bei anhaltend positiver wirtschaftlicher Entwicklung immer weiter kumulieren, ohne dass die Unternehmen mittelfristig auf solche Entwicklungen reagieren. Tatsächliche Mangelsituationen, so Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch, wären beispielsweise an einem „sorgsameren Umgang“ mit den Erwerbsfähigen (2011: 584) oder an Trends zur Entprekarisierung von Arbeit erkennbar. Unternehmen würden in solchen Fällen neben steigenden Löhnen beispielsweise auch in Aus- und Weiterbildung oder betriebliche Maßnahmen wie etwa ein zukunftsfähiges Kompetenzmanagement investieren. Bedrohen steigende Löhne und weitere angebotsbezogene Maßnahmen aus Sicht der Nachfrageseite jedoch die Profitabilität von Standorten, sind alternative Maßnahmen denkbar, die wiederum einen Rückgang der Arbeitsnachfrage zur Folge haben. Neben Arbeitsverdichtung und dem Ersetzen menschlicher Arbeitskraft zählen darunter auch Strategien zur Auslagerung und dem Outsourcing von Unternehmenseinheiten. Die Maßnahmen können in Anlehnung an den Begriff des „spatial fix“ des Wirtschaftsgeographen David Harvey (1982) als „demographic fixes“ bezeichnet werden. Sie dienen im doppelten Sinne von „to fix“ dazu, Investitionen neu zu „fixieren“ und  vorhandene „Probleme“ zu reparieren. Die Unternehmen können mit solchen Strategien auf den demografischen Wandel reagieren, um die von diesem bedingten Verwertungsprobleme zu umgehen. Greift keine dieser Strategien oder sind für derartige Anpassungsleistungen nicht ausreichend finanzielle Ressourcen vorhanden, so sind im Extremfall Betriebsschließungen die Folge.

Letztlich handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von Arbeitskräftebedarf und -nachfrage, begleitet von strukturellen Einflüssen und Brüchen. So kann etwa die Flüchtlingszuwanderung, wie wir sie im Augenblick erleben, zu gänzlich anderen Ergebnissen bei der Einschätzung der Bevölkerungs- oder Arbeitsmarktentwicklung in den nächsten Jahren führen. Generalisierende Hochrechnungen und Projektionen über lange Zeiträume werden den beispielhaft dargestellten Zusammenhängen daher nicht gerecht. Sie fallen selbst hinter neoklassische Arbeitsmarktmodelle zurück, nach denen sich in einer Marktwirtschaft Knappheitsverhältnisse in steigenden Preisen ausdrücken. Mangelsituationen auf dem Arbeitsmarkt müssten sich demnach grundsätzlich in einem Anstieg der Löhne widerspiegeln, wodurch wiederum die Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften abnähme. Auch wenn das Grundproblem einer Veränderung auf dem Arbeitsmarkt nicht geleugnet werden sollte, ist eine Überdramatisierung ebenfalls wenig hilfreich. Regionale und branchenspezifische Analysen – wie sie etwa bereits das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung durchführt – sind dagegen vielversprechender.

show Content These 2: Fachkräfteparadiesthese

Das ausgeprägte (Über)Angebot an Arbeits- und Fachkräften in Thüringen nimmt durch den demografischen Wandel ab. Die Arbeitsmarktdynamik kehrt sich nun zugunsten der Beschäftigten um, wodurch das Ende des Fachkräfteparadieses für die Betriebe eingeläutet wird.

 

Die Auswirkungen des demografischen Wandels artikulieren sich äußerst ungleich. Einige westdeutsche Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern konnten zwischen 1991 und 2013 Bevölkerungszuwächse aufweisen (+8,9 Prozent und +9,2 Prozent), während gerade ostdeutsche Länder wie Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Thüringen tief ins Minus sanken (-19,8 Prozent, -12,7 Prozent und -15 Prozent) (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2014). In Thüringen und anderen ostdeutschen Bundesländern konnten Unternehmen lange von einem „Fachkräfteparadies“ zehren. Trotz massiver Abwanderungen bis 1992 waren in Folge der geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1955 und 1980 (Hradil 2012) bis in die 2000er hinein qualifizierte Fachkräfte in einem Ausmaß vorhanden, das den Betrieben freie Wahl bei der Besetzung ihrer Stellen ließ. Dazu trug auch die massive Freisetzung von qualifizierten Arbeitnehmer/-innen im Zuge des Rationalisierungsschubs in der Industrie nach der Wiedervereinigung bei (Land 2010; Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development 2013). Für die in Thüringen ansässigen Unternehmen sicherte das niedrige Lohnniveau erhebliche Standortvorteile (Buss/Wittke 2004; Dietrich et al. 2011). Angesichts einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit, die bis Mitte der 2000er Jahre wie ein Damoklesschwert über den Beschäftigten hing, entwickelten große Teile der Belegschaften aus Angst um ihre Arbeitsplätze eine ausgeprägte Leidensfähigkeit und ein starkes Arbeitsethos. Diese „ostdeutschen Arbeitsspartaner“ (Behr 2000) standen einer überbetrieblichen Interessenvertretung häufig ablehnend gegenüber. Selbst wenn funktionsfähige Betriebsratsstrukturen existierten, kapselten diese sich in der Regel von den Gewerkschaften ab (Artus 2003: 250; Hinke 2008). Die betrieblichen „Notgemeinschaften“ (Mense-Petermann 1996: 67) zwischen Geschäftsführungen und Belegschaften – basierend auf weitgehender Beschäftigungssicherheit im Austausch gegen Lohnverzicht und Inkaufnahme schwerer Arbeitsbedingungen – sowie staatliche Förderung und günstige Grundstückspreise ebneten den Weg für viele Unternehmen wirtschaftlich in Thüringen Fuß zu fassen und beständig zu wachsen.

Diese paradiesischen Zustände sorgten dafür, dass das Gros der Thüringer Betriebe Schritte für eine nachhaltige Versorgung mit qualifizierten Arbeitskräften unterließ. So wurden unmittelbar nach der Wiedervereinigung vor allem junge Beschäftigte entlassen (Denisow et al. 1995), von denen wiederum viele in die alten Bundesländer abwanderten. Um den Arbeitsmarkt zu entlasten, wurden zudem Hundertausende älterer Arbeitnehmer/-innen über Vorruhestandsregelungen und Altersruhegeld dem Arbeitsmarkt entzogen (Sackmann et al. 2000). Neueinstellungen wurden nicht oder nur begrenzt vorgenommen und das Thema Ausbildung rückte immer weiter in den Hintergrund – auch in Betrieben, die zuvor eine starke Ausbildungstradition gepflegt hatten (Behr 2000: 34f.). Die für die Unternehmen vorteilhafte Arbeitsmarktsituation kehrte sich jedoch ab Mitte der 2000er Jahre nach und nach um. Durch die schleichende Überalterung der Belegschaften in Thüringen und den Verlust einer ganzen Generation der damals 20- bis 35-jährigen sehen sich Unternehmen inzwischen immer häufiger mit einer gegenläufigen Entwicklung konfrontiert. Nun sind es, insbesondere die qualifizierten, Arbeitnehmer/-innen, welche zunehmend eine ,Bestenauslese’ bei der Wahl des künftigen Arbeitgebers vornehmen können.

Ein Indikator für das „Ende der ostdeutschen Bescheidenheit“ (Goes et al. 2015: 102) ist – neben einer wachsenden Offenheit der Belegschaften gegenüber Gewerkschaften – die angebotsseitige Personalfluktuation. War es für viele Beschäftigte in der Vergangenheit keine Option, den Arbeitsplatz freiwillig zu verlassen, weil die Arbeitsmarktrisiken als zu hoch eingeschätzt wurden, so kündigen inzwischen immer mehr Arbeitnehmer/-innen von sich aus den Arbeitsvertrag (Eigenkündigung). Wurden im Jahr 2005 lediglich 13 Prozent der Arbeitsverträge von Beschäftigtenseite gekündigt, waren es sieben Jahre später bereits 31 Prozent. Umgekehrt wurden 2005 noch 35 Prozent der Arbeitsverträge durch die Arbeitgeber aufgekündigt, während es 2013 nur noch 24 Prozent waren (IAB-Betriebspanel 2014). Auch wird die Erleichterung der Arbeitsmarktsituation für Beschäftigte deutlich an der subjektiven Wahrnehmung des Risikos, den Arbeitsplatz zu verlieren. So schätzten im Jahr 2012 65 Prozent der Befragten ihr Risiko eines Arbeitsplatzverlustes als sehr gering ein; 27 Prozent sahen überhaupt keine Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren (Bundesinstitut für Berufsbildung/Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2012).

Mit der objektiven Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für die Beschäftigten dürfte auch der Trend zu einem sukzessiven Anstieg der Löhne in Zusammenhang stehen. Die Bruttolöhne nahmen in Thüringen zwischen 2005 und 2014 Thüringen um 21 Prozent zu, während die Zunahme im Westen Deutschlands im selben Zeitraum lediglich 6,4 Prozent betrug (IAB-Betriebspanel 2014). Dennoch liegen die Durchschnittslöhne vieler Branchen in Thüringen weiterhin um fast 30 Prozent unter dem westdeutschen Durchschnitt. Diese Entwicklung kann als Anpassung an die zunehmende Engpasssituationen auf dem Arbeitsmarkt interpretiert werden. Nehmen die derzeit regional- und branchenspezifisch auftretenden Engpässe und dementsprechend auch die Löhne weiter zu, droht das Ende des Fachkräfteparadieses. Unternehmen müssen sich demnach künftig auf veränderte Bedingungen einstellen beziehungsweise sind bereits jetzt schon davon betroffen. Dies äußert sich in längeren Vakanzzeiten, einer sinkenden Anzahl von qualifizierten Bewerbungen und höheren Ansprüchen der Bewerber/-innen an den Arbeitgeber und an die Ausgestaltung der Arbeit. Die Folge ist, dass Unternehmen dazu übergehen, ihre Personalpolitik anzupassen und attraktivere Arbeitsbedingungen zu schaffen, um qualifizierte Beschäftigte an das Unternehmen zu binden und ihre Entwicklung gezielt zu fördern. Dabei spielen die subjektiven Ansprüche an Arbeit eine zentrale Rolle.

show Content These 3: Zentrum-Peripherie-These

Probleme zur Deckung von Fachkräftebedarfen müssen vor dem Hintergrund regionaler Disparitäten (und Wertschöpfungssysteme) reflektiert werden, bei denen der demografische Wandel lediglich vermittelt wirkt.

 

Regionale Unterschiede bei der demografischen Entwicklung sind auch innerhalb der Bundesländer stark ausgeprägt: Auch in Bayern finden sich mit Oberfranken oder Niederbayern schrumpfende Regionen, während einige ostdeutsche Städte wie Jena oder Dresden deutliche Zuwächse verbuchen konnten. Folglich entwickelt sich auch das Erwerbspersonenpotenzial innerhalb der Bundesländer ungleich. Ausschlaggebend sind die Pull-Faktoren der Wanderungsbewegungen (Brücker et al. 2013), die vor allem ökonomischer Natur sind. Wirtschaftlich dynamische Ballungszentren (Rhein-Main-Gebiet, Metropolregion München etc.) ziehen zusätzliche Arbeitskräfte an; ländliche strukturschwache Regionen (Oberlausitz) oder Gebiete im Strukturwandel (Ruhrgebiet) schrumpfen dagegen tendenziell. Branchenspezifisch auftretende Fachkräfteengpässe sind demnach auch regional äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Phänomene wie die Überalterung der Erwerbspersonen sind oftmals in ländlichen, strukturschwachen Regionen vorzufinden. Unser Argument ist, dass die sich in einigen Regionen nachteilig entwickelnde Beschäftigungsstruktur wesentlich durch die polarisierte Raum- und Wirtschaftsentwicklung selbst verursacht wurde und deshalb bei der Erklärung der Arbeitsmarktentwicklung stärker die Nachfrageseite und die ihr zu Grunde liegende Wertschöpfungsbasis betont werden müssen.

Auch in Thüringen ist die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung seit 1990 auf regionaler Ebene sehr unterschiedlich verlaufen. Insgesamt verfügt der Freistaat über eine stabile industrielle Basis (BMWi 2014), die aber teilweise als verlängerte Werkbank des Westens fungiert und damit auf anhaltend niedrigen Löhnen aufbaut. Anders als in vielen der übrigen Bundesländer gibt es in Thüringen keine dominierende Metropole, vielmehr bildet die Thüringer Städtekette Gera – Jena – Weimar – Erfurt – Gotha – Eisenach ein „Siedlungsband“ von Ost nach West, das zur Dezentralisierung und Spezialisierung der wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt (Dietrich et al. 2011). Beispielsweise ist die Optikindustrie dominierend in Jena (mit Ausläufern in den Ilm-Kreis), in Eisenach ist die Automobilindustrie vorherrschend und in Sonneberg, dem Saale-Orla-Kreis und in Gotha ist vor allem die Kunststoffindustrie anzutreffen.

Nach einer Phase der Abwanderung und Suburbanisierung in den 1990er Jahren stabilisieren sich um die Jahrtausendwende einige urban geprägte Cluster (Jena, Eisenach), während einige ländliche Regionen im Norden und Nordosten als auch Städte wie Gera und Suhl immer mehr in Strukturprobleme geraten und an Bevölkerung verlieren (Fuchs et al. 2011). Die Folge ist eine zunehmende Polarisierung innerhalb des Freistaates. Betriebe, die ihr Geschäftsmodell in der Wendezeit auf die Verfügbarkeit qualifizierter, billiger Fachkräfte (in schrumpfenden ländlichen Regionen) aufgebaut haben, stoßen bei der Rekrutierung geeigneter Arbeitskräfte nun an Grenzen. Die Regionen und mit ihnen die Betriebe, die sich dort angesiedelt haben, haben durch ihre Standortpolitik an Attraktivität für Erwerbspersonen eingebüßt, was die Rekrutierung von Beschäftigten erheblich erschwert. Gleichzeitig setzen die erneute Abwanderungswelle, die um die Jahrtausendwende beginnt und vor allem die urbanen Zentren in Thüringen und in den umliegenden neuen Bundesländer zum Ziel hat, sowie das Ausscheiden vieler älterer Beschäftigter die Betriebe zusätzlich unter Druck. Umgekehrt verzeichnen selbst attraktive Betriebe in den boomenden Regionen Thüringens Engpässe bei der Rekrutierung von spezialisierten und hochqualifizierten technischen Fachkräften und geraten dabei hin und wieder auch in Konkurrenz mit westdeutschen Betrieben, die den Beschäftigten oftmals bessere Arbeitsbedingungen, Entgelte und Aufstiegsoptionen bieten. Beide Ausprägungen sind indes nur vermittelt auf den demographischen Wandel zurückzuführen: Die Angebotslücken und die Wanderungsbewegungen als Faktoren des demografischen Wandels werden durch die wirtschaftliche Entwicklung selbst bedingt und nicht umgekehrt.

Auf der Ebene der theoretischen Reflektion implizieren diese Beobachtungen, dass der Arbeitsmarkt theoretisch anders gefasst werden muss, als in den konventionellen wirtschaftswissenschaftlichen und auch soziologischen Analysen. Denn es kann weder alleine mit Angebots- und Nachfragestrukturen, institutionellen Regulierungsformen, Segmentation oder Schließung argumentiert werden (vgl. zu den gängigen Arbeitsmarkttheorien: Sesselmeier/Blauermel 2013; Weingärtner et al. 2015). Vielmehr muss die Analyse auf Wertschöpfungsketten bzw. -systeme und deren regionale Vernetzung ausgeweitet werden, da diese strukturierend auf regionale Arbeitsmarktdynamiken einwirken. Hierzu könnten Theoriebausteine aus der Entwicklungssoziologie und der Wertschöpfungskettenforschung fruchtbar gemacht werden, indem das Zentrum-Peripherie-Gefälle innerhalb Deutschlands sowie auch innerhalb Thüringens in die Analyse von demografischen Dynamiken (wie Brain-Drain) und von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen werden sollte (Bair 2010; Portes/Celaya 2013).

show Content These 4: Konstellationenthese

Es existieren äußerst heterogene Konstellationen auf regionaler Ebene, die dazu beitragen, dass sich Arbeitskräfteknappheit unterschiedlich artikuliert. Dabei spielt die Attraktivität und Marktmacht von einzelnen Unternehmen in der Region eine entscheidende Rolle.

 

Die spezifische Einbindung von Betrieben in Wertschöpfungssysteme und deren räumliche Lage innerhalb der Regionen tragen maßgeblich dazu bei, ob und in welcher Form sich Fachkräfteengpässe entwickeln. Rekrutierungsprobleme werden je nach Konstellation zu verschärfter Konkurrenz um Arbeitskräfte führen. Hierbei spielt die Struktur von wirtschaftlichen Clustern bzw. die Ausprägung von regionalen Arbeitsmärkten eine maßgebliche Rolle. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob einzelne Betriebe die Rolle als größter Arbeitgeber übernehmen (z.B. in Jena), ob es klare Hierarchien zwischen den einzelnen Betrieben innerhalb eines Wertschöpfungssystems gibt (z.B. in Eisenach und dem umliegenden Wartburgkreis), ob die Region überwiegend von kleinen und mittleren Betrieben geprägt ist (z.B. Saalfeld-Rudolstadt) oder ob auch größere Betriebe existieren. Gleichzeitig ist die Lage der Landkreise bzw. Städte für den regionalen Arbeitsmarkt von Bedeutung: Die Nähe zu Bayern oder Hessen kann zum Beispiel zu Pendlerbewegungen führen, während die Grenznähe zu Tschechien (Bautzen) wiederum dazu beitragen kann, dass die örtlichen Arbeitgeber für ältere Arbeitnehmer/-innen mit Wohneigentum als alternativlos erscheinen. Die unterschiedlichen Konstellationen und Problemlagen lassen sich an folgenden zwei Idealtypen verdeutlichen:

1) „Betriebskannibalismus“

In Regionen, in denen (Groß-)Unternehmen mit einer hohen Arbeitsproduktivität existieren, besteht die Gefahr, dass sich in der Konkurrenz um Arbeitskräfte ressourcenstarke Unternehmen durchsetzen, die ihren Arbeitskräftebedarf auf Kosten von kleineren und mittleren Unternehmen decken können. Die Konkurrenz um Arbeitskraft kann die Existenz schwächerer Unternehmen untergraben. Damit drohen Bumerangeffekte, die für die gesamte Region zum Problem werden können. So können als Folge dieser Konkurrenz wichtige Glieder der regionalen Wertschöpfungssysteme kollabieren. Das ,Absaugen’ der regionalen Arbeitskraft durch marktmächtige Akteure wird auch dort problematisch, wo durch diesen Mechanismus das Arbeitskräftereservoir für unabdingbare Infrastrukturen und (soziale) Dienstleistungen ausgedünnt wird. Der Betriebskannibalismus kann zudem auch zwischen den Regionen wirken: „Leuchttürmen“ wie der Optikindustrie in Jena mit vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen und Bezahlung kann das Fundament wegbrechen, wenn aus benachbarten Landkreisen Arbeitskräfte von Zulieferfirmen rekrutiert werden.

2) Austrocknen des Reservoirs

Insbesondere in ländlichen Regionen, in denen nur wenige größere Arbeitgeber existieren, droht ein Austrocknen des Arbeitskräftereservoirs, was lange Zeit durch günstige Rahmenbedingungen (Überangebot an Fachkräften) überdeckt wurde. Die spezifische Situation nach der Wende führte dazu, dass einige wenige Betriebe den ortsansässigen Arbeitnehmer/-innen lange als alternativlos erschienen, sodass von Unternehmerseite Bemühungen zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung, Erschließung weiterer potenzieller Arbeitskräfte oder das Vorantreiben von Maßnahmen zu alternsgerechtem Arbeiten systematisch vernachlässigt wurden. Die langsame Umkehrung der Dynamik auf dem Arbeitsmarkt trägt nun dazu bei, dass es zu einem ,tipping point’ kommen kann, an dem existenzielle Rekrutierungsprobleme entstehen, die nicht von allen Unternehmen mit notwendigen Investitionen beantwortet werden können. Die Folge ist, dass einige strukturschwache Regionen noch stärker abgehängt werden könnten und in diesen – im Falle eines Ausbleibens koordinierter Gegenmaßnahmen (s.u.) – eine Abwärtsspirale einsetzen könnte.

Die spezifische regionale Ausprägung von Wertschöpfungssystemen und Industriestrukturen sollte daher auch im Mittelpunkt der Forschung zu Demografie und Arbeit stehen.

show Content These 5: Kollektivgutthese

Die Sicherung und Entwicklung regionaler Fachkräftereservoirs erfordert langfristig orientierte, akteursübergreifende Kooperationsformen. Arbeit muss als regionales Kollektivgut begriffen werden, dessen Sicherung eine Steigerung der Qualität der Arbeit und die Verbesserung sozialer Infrastrukturen unerlässlich macht.

 

Neben einer aktiven betrieblichen Personalpolitik ist zur Eindämmung und Vermeidung von Fachkräfteengpässen eine Stärkung der institutionellen Arrangements und Akteure der Arbeitsregulierung notwendig. Wo sich die neue Dynamik auf den Arbeitsmärkten manifestiert, erwächst eine intensivierte Konkurrenz der Unternehmen um Arbeitskraft. Wie zuvor beschrieben, werden sich in dieser Konkurrenz ressourcenstarke Unternehmen und Regionen durchsetzen, sodass kleine und mittlere Unternehmen bei der Arbeitskräfterekrutierung mittel- und langfristig das Nachsehen haben. Da der Wettbewerb um Arbeitskraft nicht zu eliminieren ist, sind Politiken zu entwickeln, die Arbeit als regionales Kollektivgut begreifen und unterschiedliche Akteure zusammenbringen, um dieses Gut systematisch und langfristig zu entwickeln.

Derart übergreifende Initiativen unterschiedlicher Akteure im Feld der Arbeit sind auch unerlässlich, um die Kompetenzen heterogener Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen  Lebensphasen in innovativer Form zur Steigerung der Produktivität in den Betrieben zu erschließen. Die Evaluation und Entwicklung der Kompetenzen von Migrant/-innen, Langzeiterwerbslosen, Menschen mit diskontinuierlichen Erwerbsverläufen und formal Niedrigqualifizierten beanspruchen finanzielle und personelle Ressourcen, die auf einzelbetrieblicher Ebene vor allem für kleine und mittlere Unternehmen kaum bereitgestellt werden können. Regionale Kooperationsstrukturen (unter Einschluss von Verbänden, Bildungsträgern, Arbeitsagenturen, Wissenschaft, Gesundheitswirtschaft und anderen) müssen genutzt beziehungsweise wiederbelebt werden, um Ressourcen zu bündeln und Räume für gegenseitiges Lernen und den Transfer von Erfahrungen und Maßnahmen zu eröffnen.

Solche Kooperationen hätten entsprechend nicht nur die konkreten Bedingungen in der Arbeit in den Blick zu nehmen, sondern auch verstärkt die sozialen Bedingungen zu reflektieren, die Erwerbstätigkeit überhaupt ermöglichen. So hat eine große Zahl von Frauen in Teilzeitbeschäftigung, die gerne mehr arbeiten würde, keine ausreichende Verhandlungsmacht eine Ausdehnung ihrer Arbeitszeit zu erwirken, weil ihnen nach wie vor die Lasten der Reproduktions- und Sorgearbeit zugeschrieben werden (Meyer-Gräwe/Steffen-Kriege 2014). Die Frage, wie notwendige soziale Infrastrukturen angesichts der Arbeitsmarktsituation überhaupt im notwendigen Maße ausgebaut werden können, ohne die Arbeit in diesem Bereich entsprechend (materiell) aufzuwerten, provoziert unmittelbar Fragen nach einer stärkeren staatlichen Einbeziehung und Koordination.

Eine arbeitspolitische Zielsetzung, die auf eine Steigerung der Qualität der Arbeit (u.a. Partizipation, Gesundheit, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, Qualifikation) zielt, lässt sich unterschiedlich begründen. Angesichts neuer Mängelkonstellationen auf den Arbeitsmärkten sollte die Schaffung qualitativ guter Arbeitsverhältnisse aber auch aus betrieblicher Perspektive zunehmend an Bedeutung gewinnen: Für die Rekrutierung und Bindung von Fachkräften gewinnt die Arbeitsqualität zunehmend an Bedeutung. Wo der disziplinierende Druck hoher Erwerbslosigkeit sinkt, müssen Arbeitsbereitschaft und -motivation durch verbesserte Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Da angenommen werden kann, dass die Kompetenzen der Beschäftigten eine zentrale Ressource zur Bewältigung von Innovations- und Flexibilitätserfordernissen darstellen (Ludwig et al. 2007), wäre zudem ein arbeitspolitischer Schub in Richtung beteiligungsorientierter Organisationskultur unabdingbar. Eine solche Entwicklung lässt sich aus unserer Sicht idealerweise realisieren, wenn sowohl Betriebsräte als auch gewerkschaftliche Interessenvertretungen deutlich gestärkt werden. Denn die selbstbewusstere Anspruchshaltung der Arbeitenden wird nicht zwangsläufig in der betrieblichen Arena artikuliert und zum Gegenstand von Arbeits- und Interessenpolitik gemacht. Wo keine Arenen kollektiver Interessenaushandlung existieren, dominieren eher individuelle Strategien der Arbeitnehmer/-innen (z.B. job hopping). Ob eine rein betriebswirtschaftlich motivierte Nutzung von Beschäftigtenkompetenzen (z.B. in Prozessen der Selbststeuerung, Selbstorganisation, interpersonaler Wissenstransfer) ohne soziale Kompromissbildung in institutionell gesichertem Rahmen zu realisieren ist, ist fraglich (Thieme et al. 2012). An dieser Stelle mag sich die besondere Schwäche der Institutionen der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland (Dörre 2010; Singe/Thieme 2011) auch für die Arbeitgeberseite als Bürde erweisen, weil die Mechanismen der Interessenaggregation und -aushandlung sowie der systematischen Entwicklung von Arbeit unzureichend entwickelt sind. Ein Anzeichen dafür, dass sich bereits ein Wandel hin zu einer vermehrten Einbeziehung der Interessenvertretungen vollzieht, liefern Goes und Kollegen, die den vor einigen Jahren entstandenen „Thüringenkorporatismus“ beschreiben: Hierbei handelt es sich um ein korporatives Arrangement zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, welche – nicht zuletzt auch durch die zunehmende Konfrontation mit den demografischen Umbrüchen – verstärkt zusammenrücken. Flankiert wird diese unverbindliche Kooperation (vgl. Streeck 1999: 304f.) durch die Einbeziehung staatlicher Akteure und arbeitspolitischer Netzwerke. Gemeinsam wurden in verschiedenen Gremien und Foren Instrumente, politische Regelungen und Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht, die mitunter eine vorsichtige Korrektur der früheren Bevorzugung von Wirtschaftsinteressen vornahmen (Goes et al. 2015: 87ff.).

show Content Epilog

Die Thesen weisen auf einige bislang nicht bedachte Ansatzpunkte hin, von denen ausgehend sich dem Thema der Fachkräfteengpässe genähert werden kann. Ein zentraler Punkt konnte in diesem Rahmen jedoch nicht diskutiert werden: Letztlich ist die Prognosefähigkeit von sämtlichen Studien zu diesem Thema dadurch begrenzt, dass immer wieder unerwartete Ereignisse scheinbare Konstanten erschüttern. Ein solches Ereignis ist die Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Durch diese ist eine neue Situation entstanden, denn eine erfolgreiche Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt könnte Probleme in der Personalrekrutierung abschwächen. Allein in Thüringen wurden im vergangenen Jahr rund 30.000 Flüchtlinge registriert. Dabei ist jedoch weitgehend offen, wie viele dieser Menschen im Freistaat bleiben und welche Optionen sie auf dem Arbeitsmarkt haben werden. Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten: Die rechte Mobilisierung und der Aufstieg der AfD könnten nicht nur in Thüringen das gesellschaftliche Klima verändern und dazu beitragen, dass diese Chance auf eine Verbesserung des Arbeitskräfteangebots vertan wird. Es hängt letztlich also maßgeblich von gesellschaftlichen Akteuren ab, in welcher Form sich der demografische Wandel auf dem Arbeitsmarkt artikulieren wird.

 

 

show Content Literatur

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